Durch den Übergang zur E-Mobilität verändert sich die Wertschöpfung in der Automobilindustrie in Europa fundamental. Aktuell trägt die Industrie mit 1.900 Milliarden US-Dollar Bruttowertschöpfung fast 8% zum europäischen Bruttoinlandsprodukt bei. 60% der Wertschöpfung entstehen in der Fahrzeugproduktion, bei Zulieferern und im Handel („upstream“); 40% im Aftermarket und durch Services („Downstream“). Wenn der europäischen Industrie der Wandel gelingt – d.h. wenn europäische Hersteller ihre Marktanteile halten oder leicht ausbauen und die Batteriewertschöpfung zu 75% in Europa liegt – könnte die europäische Wertschöpfung bis 2035 auf rund 2.200 Milliarden US-Dollar sogar ansteigen. Wenn der Marktanteil europäischer Hersteller aber mit der gleichen Geschwindigkeit wie aktuell von heute 60% auf 45% sinken sollte und es nicht gelingt, die Batterieproduktion zu lokalisieren, könnten 400 Milliarden US-Dollar Wertschöpfung (20% des heutigen Werts) auf dem Spiel stehen. Dies geht aus einer neuen Studie hervor, die die Unternehmensberatung McKinsey & Company heute veröffentlicht hat.
In Europa hergestelltes Auto mit Verbrennungsmotor mit 85-90% lokaler Wertschöpfung
„Die europäische Automobilindustrie war mit ihrer Expertise rund um Verbrennungsmotoren über Jahrzehnte sehr erfolgreich. Jetzt gilt es, den Wandel hin zur E-Mobilität zu meistern und so die Wertschöpfung in Europa zu halten“, sagt Harald Deubener, Senior Partner im Stuttgarter Büro von McKinsey.
Aktuell trägt ein in Europa hergestelltes und verkauftes Fahrzeug mit Verbrennungsmotor mit 85-90% des Listenpreises zur europäischen Wertschöpfung bei – jeweils zur Hälfte durch direkte Wertschöpfung (z.B. Kosten für Karosserie, Antriebsstrang, Software und Elektronik) und durch indirekte Wertschöpfung (Forschung & Entwicklung, Herstellung). Bei einem von einem europäischen Hersteller in Europa produzierten batterieelektrischen Fahrzeug sinkt der Anteil der Wertschöpfung bereits auf 70-75% des Listenpreises, da vor allem die Batterien oft aus Asien bezogen werden. Ein von einem nicht-europäischen Hersteller in Europa produziertes E-Auto liegt noch bei 55-60%, ein importiertes batterieelektrisches Fahrzeug nur noch bei 15-20% Anteil europäischer Wertschöpfung.
„Bis 2035 sind unterschiedliche Szenarien denkbar, die sich um bis zu einem Drittel der industriellen Wertschöpfung unterscheiden. Daher haben die heutigen Entscheidungen einen enormen Einfluss auf den Erfolg der Autoindustrie sagt Patrick Schaufuss, Partner im Münchner Büro von McKinsey.
- Disruptives Szenario: In diesem Szenario würden europäische Hersteller weiter Markanteile in Europa (von 60 auf 45% in 2035 – Fortschreibung der aktuellen Tendenz) und weltweit (von 12 auf 7%) verlieren. Die Upstream-Wertschöpfung ginge um mehr als ein Drittel (über 400 Mrd. US-Dollar) zurück; vor allem bei Zulieferern und Herstellern.
- Ambitionierte Pläne: In diesem Szenario würden die europäischen Unternehmen ihren Anteil an der Batteriewertschöpfungskette ausbauen und die Marktanteile weltweit halten – damit läge die Wertschöpfung in Produktion und Verkauf mit rund 1 Milliarde US-Dollar nur rund 11% unter dem heutigen Wert.
- Volles Potenzial: Wenn europäische Hersteller ihren Marktanteil auf 65% steigern würden – ein Wert, den sie 2020 noch erreicht haben – die Wertschöpfungskette der Batterie zu 75% lokalisieren würden und die Produktion bei rund 12 Mio. Fahrzeugen liegen würde – dann könnte die europäische Industrie die Wertschöpfung im Upstream stabil halten; und den gesamten Beitrag zur europäischen Wirtschaftsleistung durch einen wachsenden Downstream-Anteil sogar steigern.
„Die Bedeutung von Aftermarket und Services nimmt in allen Szenarien stark zu“, sagt Schaufuss. Da bis 2035 viele Fahrzeuge im Bestand noch Verbrenner sein werden und Kunden für den Service lokale Anbieter nutzen, ist der Wandel in diesem Bereich eher langsamer. Bei batterieelektrischen Fahrzeugen ergeben sich jedoch auch neue Geschäftsfelder: Von Batterierecycling über digitale Angebote, Ladeinfrastruktur bis hin zu Versicherungen und Finanzierungslösungen. „Hersteller sollten ein größeres Augenmerk auf diese wachsenden Geschäftsfelder legen“, so Schaufuss.
Damit die europäische Autoindustrie den Wandel möglichst positiv gestaltet kann, haben die Stakeholder die Möglichkeit, folgende Themen angehen:
- Auf Unternehmensebene könnte die europäische Autoindustrie ihre Abhängigkeiten in der Lieferkette analysieren und minimieren, ihre Mitarbeitenden in Kerntechnologien wie Künstliche Intelligenz weiterbilden und Partnerschaften mit Universitäten und Fachhochschulen eingehen. Zudem könnten agilere Entwicklungsprozesse die Produktzyklen deutlich verkürzen. Es gilt zudem, das Produktportfolio zu entschlacken und die Differenzierung über Software zu steigern. Eine Performance-Kultur basierend auf klaren Messgrößen kann in Unternehmen helfen, kontinuierliche Verbesserung zu erreichen und die Produktivität zu erhöhen – auch durch neue Technologien wie GenAI.
- Auf Industrieebene könnten die Unternehmen ihre Zusammenarbeit verstärken – von Batterien über Halbleiter bis hin zu fortgeschrittenen Fahrassistenzsystemen. Es brauche zudem eine Offenheit gegenüber Partnerschaften mit neuen Anbietern.
- Auf regulatorischer Ebene kann ein klarer Fahrplan für die Dekarbonisierung in der Automobilindustrie helfen. Hierzu gehören nicht nur ambitionierte Ziele, sondern auch flankierende Maßnahmen und Anreize, sodass die Industrie die Mammutaufgabe bewältigen kann. Diese müssten sich auch im globalen Vergleich messen lassen.